Die Sage vom Murnauer Lindwurm existiert - wie im Vorwort vermutet -
wohl schon seit dem 8. Jahrhundert. Anfangs ein christliches Motiv
(Drachen töten = Heidentum austreiben), wurde sie im Lauf der Zeit
immer weiter ausgestaltet.
Zuerst war es laut Volkssage der Heilige Magnus, der den Drachen in
Ramsee (also wohl bei der Ramsachkirche am Drachenstich)
bekämpfte. Von ihm erzählt die Legende, dass er dem Drachen -
eigentlich ein Lindwurm, der nur zwei Vorderbeine hatte - einen
Pechklumpen mit Haaren vermengt zum Fraß vorwarf, so dass der Drache
verendete. Diese Version ähnelt der biblischen Darstellung im Alten
Testament von Daniel (Löwengrube - babylonische Gefangenschaft), der
ebenso mit einer Pechkugel mit Haaren einen Drachen am Tigris oder
Euphrat getötet hat.
Dann kam die Geschichte mit dem Kalb und dem ungelöschten Kalk
hinzu. Der Drache verschlang das vermeintliche Kalb in aller Gier und
Hast, musste aber richtig davon zerbersten. Dieser Trick mit dem Kalb
wurde in den weiteren Ausgestaltungen mal einem Schusterbuben
zugeschrieben, mal einem durch reisenden Ritter und mal dem Kaiser
Ludwig dem Bayern (14. Jahrhundert). Auch das Nibelungenmotiv und die
griechische Mythologie hatten Einfluss auf die Murnauer
Lindwurmerzählung. Und selbstverständlich durfte auch der Staffelsee
und die Insel Wörth als Wohnort des Drachen in weiteren
Ausgestaltungen nicht fehlen. Die Legende erzählt ebenso, dass am
Drachenstich noch im 18. Jahrhundert eine "gemauerte Säule die Stätte
des obigen Vorfalls bezeichnete". An Stelle dieser Säule steht heute
ein Gedenkstein für den Murnauer Volksmusiker Georg Reiß, der 1909 im
Alter von 27 Jahren verstarb.
Im Buch "Geschichten aus dem Pfaffenwinkel" von Christian Buck ist
eine der schönsten Varianten der Murnauer Volkssage zu lesen:
Der Markt Murnau führt in seinem Wappen einen Lindwurm mit vorwärts
greifenden Klauen, aufgesperrtem Rachen und einer ausgestreckten roten
Zunge. Grad so ein Drache hat vor Zeiten dort gehaust. Den Bauern
raubte er die Kälber von der Weide weg und die Jungfrauen aus den
Häusern, fraß sie auf, mit Haut und Haaren: ein einziger Schnapper,
und schon waren sie verschluckt! Dann nahm er im Staffelsee sein Bad,
soff sich voll und flog auf seine Insel zurück um zu schlafen, bis es
ihn von neuem nach einem Schaf oder einer Jungfrau gelüstete.
Wenn
gleich der Kaiser selber aufgerufen hat, er tät dem zum Ritter
schlagen, der den furchtbaren Drachen tötete, und wenn er schon Ritter
wäre, tät er ihn zum Grafen machen - was half's? Der Lindwurm hatte
eine Haut, durch die kein Schwert drang, hatte Pranken, die mit einem
Schlag Ross und Reiter zusammendätschten, das schlimmste aber war, das
er Feuer speien konnte, von dem jeder Brustpanzer schmolz wie Butter
in der Julisonne. Als schon all die Abenteurer ihr Leben gelassen
hatten, die von weither gen Murnau gekommen waren, als die Kälber
schon zur Seltenheit und die Jungfrauen schon zur Rarität wurden ,da
versuchte es der Kaiser noch einmal mit neuen Versprechungen: nicht
nur zum Ritter soll derjenige geschlagen werden, der den Lindwurm
erledigte, auch die allerschönste der noch verbliebenen Jungfrauen
dürfte er sich zur Frau nehmen, und dem jungen Paar tät er eine Burg
bauen und das Dorf Murnau zum Markt erheben!
Nun war da ein armer
Schusterbub, der weder Aussichten hatte zu Geld und Gut zu kommen, in
seinem Leben, geschweige denn zu einer schönen Frau - es sei denn, er
könnte dem Lindwurm den Garaus machen. Zwar besaß er keinen
Brustpanzer und wusste auch kein Schwert zu führen, dagegen hatte er
Grips im Kopf und Geschick in den Händen, und darum ging er zum Kaiser
und meldete für den andern Tag seine Heldentat an. Der Kaiser dachte
nicht anders als so: Ein Schusterbub mehr oder weniger in meinem
Reich, was kommt's schon drauf an? Frisst halt der Lindwurm morgen
statt einer Jungfrau den Schusterbuben!
Dieser dachte freilich gar
nicht daran, sich fressen zu lassen. Er holte sich beim Abdecker ein
frisches Kalbsfell, beim Brennofen ungelöschten Kalk, fuhr das alles
in einem Schubkarren zum See hinunter, schoppte das Kalbsfell mit Kalk
aus und nähte es fein ordentlich zusammen. So stellte er´s hinter
einen Weidezaun, versteckte sich selber in einer Hollerstauden und
fing an zu blöken wie ein Schaf. Das weckte den Lindwurm in seiner
Inselhöhle, der Bauch krachte ihm alsbald vor Hunger und der giftige
Geifer lief ihm im Maul zusammen, er nahm sich nicht einmal Zeit, den
Schlaf aus den Augen zu reiben, erhob sich in die Lüfte, dass es
rauschte wie ein Föhnsturm, erspähte das Kalb hinterm Weidezaun und
stürzte sich drauf wie ein Tatzelwurm! Zu seinem Glück blieb dem
Schusterbuben sein Blökerer vor Schreck im Halse stecken. Ein
Schnapper - und verschluckt war das Kalbsfell, mitsamt dem Kalk!
Das war rass! Drum nahm das Untier auf der Stelle sein Bad und soff sich
dabei toll und voll. Eh sich´s der Drache versah, begann der Kalk
hitzig zu werden und zu quellen, mit Müh und Not konnte er sich noch
ein paar Schusterellen hoch in die Luft erheben, dann aber zerriss es
ihn in lauter Fetzen, und die versanken im See. Der Kaiser erhob sein
Dorf Murnau zum Markt, gab ihm alle Rechte und Freiheiten und einen
Lindwurm ins Wappen, auf ewige Zeiten.